Sabine Tschainer-Zangl
Dipl.-Theologin, Dipl.-Psycho-Gerontologin, Inhaberin von Aufschwungalt München, Demenzerisch® lernen
Eine ganz persönliche Frage zum Anfang:
„Haben Sie sich schon einmal geschämt? Kennen Sie das Gefühl der Scham?“
Das Gefühl der Scham ist ein ganz entscheidendes, wenn es um die Gesundheit oder
eben um die fehlende Gesundheit unserer Seele geht.
Warum schäme ich mich? Vielleicht können Sie sich noch an Ihre Jugend, an die
Pubertät erinnern, an Situationen, in denen man die eigenen Eltern als so unmodern oder
gar „spießig“ erlebte. Kennen Sie solche Situationen? Dann hat man sich geschämt für
diese Eltern, die so altmodisch sind oder die einem zur Begrüßung völlig uncool einen
Kuss auf die Wange gaben….
Ich schäme mich für etwas, weil der andere nicht so ist, wie es vielleicht meinen Normen,
den Normen der Gruppe, meiner Klassenkameraden, meiner auch pubertierenden
Freunde entspricht. Das geht Gott sei Dank vorüber.
Wenn Partner oder Eltern beim Älter- und Altwerden an einer seelischen Erkrankung
leiden (sei es eine Depression, sei es eine Demenz), bedeutet dies auch, jemanden in
der Familie zu haben, der irgendeiner Norm nicht entspricht. Eine wichtige Norm aber
unserer Gesellschaft lautet dabei: wir haben alles im Griff, wir haben alles unter Kontrolle
und wir brauchen keine Hilfe, weil wir alles alleine können.
Eine psychische Erkrankung zeigt den Betroffenen und ihren Angehörigen mit
erbarmungsloser Hartnäckigkeit auf, nicht alles im Griff zu haben:
Einfache Dinge, wie das morgendliche Aufstehen, das immer unkomplizierte
Funktionieren, das Schuhe-zu-binden, die eigene Wohnung wiederzufinden, ein Auto
fahren zu können. Dann erlebe ich als Angehörige, dass mein Partner, meine Partnerin,
meine Ehefrau, mein Elternteil, ein Schwiegerelternteil einer gesellschaftlichen Norm
nicht genügen und dann schäme ich mich.
Dies ist ein entscheidender Grund, dass auch heute noch psychische Erkrankungen - noch dazu im Alter - weitgehend ein tabuisiertes Thema in unsere Gesellschaft darstellen und somit
Angehörige aus ganz verständlichen Gründen häufig versuchen, diese Erkrankung „in den eigenen vier Wänden“ zu verstecken:
Weil Scham eines der am schwersten auszuhaltende menschliche Gefühl ist.
SEGA e.V. hat sich als zur Aufgabe gemacht, diese Tabus aufzulösen - durch Aufklärung
und Unterstützung der Betroffenen und ihrer Familien dafür zu sorgen, dass auch
seelische Erkrankungen im Alter ihren Platz (und damit Verständnis und Respekt) in der
Mitte der Gesellschaft finden. Gleichzeitig ist es ebenso ein Anliegen, aufzuzeigen, dass
Alt-Sein und seelische Gesundheit kein Ausnahmezustand sind - sondern der
überwiegende Regelfall im Alter.
Gerade letzteres halte ich für besonders wichtig, da ich immer wieder mit der negativen
Sicht auf „die Alten“ konfrontiert werde. Aber „senil“ heißt erst einmal nichts anderes als
„hochbetagt“. Die Pathologisierung findet in unseren Köpfen statt. Und da wir alle
hoffentlich älter und alt werden, gilt es gegen die Tabuisierungen und krankmachenden
Vorurteile anzugehen.
Genauso, wie SEGA e.V. es tut
– und ganz im Sinne der eigenen seelischen Gesundheit beim Älterwerden.